Homeoffice für die Seele

Wir richten uns gerne ein, finden uns zurecht mit den Versorgungsnischen für seelische Streicheleinheiten. Für viele von uns bleibt in all dem Treiben, den fest gezurrten beruflichen Abläufen, den prall gefüllten Freizeitkalendern eben nur ein Zwischenraum für das zarte Seelenleben. Etwaige leise Töne aus unserem Inneren nach mehr Beachtung sehen sich zusätzlich einer trägen Komfortzone gegenüber, in der sich ohne große Eigeninitiative Kino, Kontakte und Kaufangebote via Internet aufs Sofa geholt werden. Es fällt leicht, von sich abzulenken, sich im Rad der alltäglichen Anforderungen voran zu bewegen ohne Ausreden dafür finden zu müssen, warum es gerade nicht geht, sich mit sich selbst zu beschäftigen. Was sollte das überhaupt sein – „sich zu beschäftigen“: Leistung erbringen, Geld verdienen, Dinge kaufen, die uns dann beschäftigen? Das ist vermutlich jenes Lebenskarussell, in dem sich die meisten von uns, bunt variierend, immer rasanter und ausschweifender drehen. Bis …

Vertrautes im Schleudersitz

… eines schönen Tages etwas passiert, das wie ein Tsunami über unsere Selbstverständlichkeiten hinwegwalzt. Vielleicht meinen wir, es beträfe uns nicht, obgleich wir die besondere Stimmung, die Ruhe vor dem Sturm, subtil wahrnehmen können. Und während wir uns in vertrauter Weise des Wegs sind, katapultiert es uns aus den bunten Sesseln unseres Lebenskarussells heraus. Die Ausnahmesituation, in der wir uns durch COVID-19 befinden, steht exemplarisch für jedwedes, als Unglück bezeichnete Ereignis. Die Auslöser für Krisen sind vielfältig und mit all ihren Folgen, Nebenwirkungen und Kollateralschäden, richten sie ihre Botschaften an uns.
Mit einem Mal sitzen wir nicht mehr wie jeden Morgen im Auto, beklagen die immer längeren Staus auf den Wegen zur Arbeit, um uns dann für viele Stunden in Räumen mit widernatürlich, hellem Licht aufzuhalten. Wir hatten gerade den Vertrag für den Fitnesskurs unterschrieben, freuten uns auf längere gemeinsame Aufenthalte bei wärmeren Temperaturen im Freien, wir schauten auf die nächsten Ferien mit den bereits gebuchten Reisen. Wie in einem Albtraum scheint die Welle der Beschränkungen uns alles wegzureißen, was unser Leben lebenswert gemacht hat und von dem wir annahmen, es seien die verlässlichen Säulen unserer Existenz. 

Raum für neues Wachstum

Nun sitzen viele von uns bereits ab den Morgenstunden zum Arbeiten zuhause, statt nur noch abends, um den Tag hinter sich zu lassen. Und mit jedem neuen Tag erwacht die neue Gewissheit, nicht zu wissen, wie lange der Zustand andauern wird. Doch welcher Zustand eigentlich? Der Umstand von zuhause aus zu arbeiten, Freizeitangebote nicht mehr nutzen zu können, Kinderbetreuung neu zu organisieren, Schularbeiten viel engagierter mit zu betreuen, Kontakte und Ausgang nur nach Vorschrift zugestanden zu bekommen, lässt eine Stimme immer hörbarer werden: die aus unserem Inneren. Dass wir uns zwanghaft unserer Freiheit beraubt fühlen, dass die Stille auf den Straßen und der Fullstopp in unserem geschäftigen Treiben tief an den Wurzeln unseres Sicherheitsempfindens reißen, das konfrontiert uns alle nahezu eruptiv mit dem, was unsere Seele schon lange sagen möchte. Wir können uns nicht selbst entfliehen und, ohne unsere Seele mitzunehmen, ständig weiter (im Außen) wachsen wollen. Das Wachstum, welches wir auf Kosten der natürlichen und menschlichen Ressourcen gewissenlos und schadhaft befürwortet und betrieben haben, erhält derzeit sein Echo – mit einer nicht einschätzbaren Tragweite. Wir sind innerlich nicht mitgewachsen.

Homeoffice für die Seele

Wie sähe unsere Welt aus, wenn wir den Ruf unserer Seele mit hinein in unsere Lebenslogistik, in unsere Globalisierungsansprüche und unseren Entwicklungshype genommen hätten? Was wären die Ziele für unsere Weltgestaltung gewesen, wenn wir uns getraut hätten, nicht nur rational und selbstermächtigt, sondern auch feinsinnig und demütig voranzuschreiten? Welche Ereignisse brauchen wir, um nicht in den zunehmenden Automatismen zu roboterartigen Wesen zu erstarren, die sich zugleich in den unendlichen virtuellen Weiten verlieren?
Offensichtlich einen Zustand wie diesen. Mögen die Herleitungen, wie es dazu kommen konnte, verschiedene Theorien auf den Plan rufen, ich schaue darauf, was Zustände, wie diese mit uns machen. Ich selbst bin schon lange daran gewöhnt im Homeoffice zu arbeiten, wechselweise auch anderenorts, als Selbständige hielt ich mich stets flexibel. Doch auch für mich bleibt das Homeoffice nicht mehr dasselbe. Es ist zum „Homeoffice für meine Seele“ geworden. Ich teile die existenziellen Herausforderungen mit vielen und stelle dabei fest, dass ich diesen nur klar und stabil begegnen kann, wenn ich meine echten Ankerpunkte kenne. Ich sage gerne Ankerpunkte dazu, weil sie mir ganz aus mir selbst heraus Kraft geben und mich zugleich mit mir selbst verankern. Was sind meine Ankerpunkte für Wohlbefinden, innere Balance, Selbstzufriedenheit, Lebensfreude, körperliche Stabilität, und was ist vor allem die wahre Quelle für meine Seelennahrung? Hier zwei Beispiele:

Ankerpunkt 1:

Ich schaue jeden Tag, womit ich anderen, denen die Umstände vielleicht noch mehr zusetzen, eine Freude, eine Inspiration, eine Unterstützung anbieten kann. Ein Lächeln im Telefonat, ein Dankeschön von Herzen, ein bewusster Blickkontakt mit der Kassiererin im Supermarkt, einen wertvollen Gedanken mit anderen teilen – es fließt stets etwas Positives zurück. Mehr als sonst und ich nehme es viel bewusster und dankbarer auf als früher. Smoothies für die Seele.

Ankerpunkt 2:

Ich schaue jeden Tag, was ich mir Gutes tun kann. Worin findet meine Seele Raum zum Atmen? Vielleicht ist es der Spaziergang oder ein paar Minuten Sonne tanken, vielleicht sind es kreative Bastelstunden mit meinem Sohn, vielleicht ist es der nicht ganz freiwillige Durchbruch zum heilsamen Müßiggang am Abend, der zum inspirierenden Leerraum wird. „Ach, dieses Buch wollte ich immer schon mal weiterlesen…“ Ich schreibe allerdings lieber und wie in alten Zeiten liegen nun wieder überall Notizblätter und angefangene Blöcke mit Gedankenskizzen herum. Es ist ja so viel in mir, was nun Aufmerksamkeit geschenkt bekommt, da es ob seiner Sinnhaftigkeit derzeit kaum Konkurrenz zu befürchten hat. Ich kann mich endlich mal mit dem scheinbar Sinnlosen, dem bislang Überflüssigen, Hintenangestellten, für nebensächlich Erklärten beschäftigen. Ich habe nun endlich die Erlaubnis, mit dem Flügelschlag meiner Seele frei über Eingefahrenem zu kreisen. Durchatmen für die Seele.

Seelenschätze mitnehmen

Indem ich anerkenne, ein Wesen zwar aus Fleisch und Blut zu sein, ausgestattet mit Hirnschmalz und Muskelkraft, verfeinert mit großartigen Sinnen und energetischen Strukturen, vor allem aber eines, welches sich nicht selbst erschaffen hat, wende ich mich der wahren Quelle meines Seins zu. Das äußere Abgeschnittensein öffnet die Pforten für das Bewusstsein unserer allgegenwärtigen Verbindung an das große Ganze, die übergeordnete Lebensintelligenz, welche mit uns sprechen möchte. Welche gerade jetzt zu uns spricht, und wir eine unvergleichliche Chance erhalten, wirklich zuzuhören. Wir lernen in dieser Zeit viel von uns und über uns, wenn wir uns nur beobachten, nicht bewerten, wenn wir Impulsen folgen, die zunächst abwegig erscheinen, sich aber dennoch richtig anfühlen. Wenn wir Ankerpunkte setzen, dann kann sich das feine Gebinde unseres Seelenlebens zu unseren Gunsten frei entfalten. Erlebnisse aus der (wieder hergestellten) Anbindung an diese innere Führung stärken unser Vertrauen in die Seelenschätze. Die geben uns einen sicheren Halt und eine beständige, gesunde Wegführung in Zeiten wie diesen.