Hand in Hand mit unserem inneren Kind

Älter zu werden bedeutet nicht zugleich auch in allen Teilen seiner Persönlichkeit erwachsen geworden zu sein. Ob wir selbst Eltern sind oder als Single leben – unser inneres Kind ist ein besonderer Teil in unserem Leben. Es verdient unsere Aufmerksamkeit, denn es hat wegweisende Botschaften für uns. 

Gut getarnt

Das innere Kind – für viele Inbegriff von Unbedarftheit, Ausgelassenheit, Verspieltheit und Träumereien. Doch unser inneres Kind ist weitaus mehr. Gerade alles Positive, was wir damit in Verbindung bringen, seine Unbeschwertheit, seine Offenheit, sein Einfallsreichtum und seine feinen Antennen, das wird im Zuge des Erwachsenwerdens zu oft dem Vernünftig sein und dem Etwas aus sich machen untergeordnet.

Die Überbetonung des Kognitiven, der Erwartungs- und Leistungsdruck formen recht schnell – und zudem leider unbewusst anhaltend – eine Person, welche sich damit zurechtfinden muss, dass nicht alles von ihr erwünscht und wertgeschätzt wird. Diese Spuren tragen wir in uns. In diesen Spuren wandelt unser inneres Kind, welches zugleich zum stillen Botschafter für unsere Ganzheitlichkeit wird.

Vom Verstehen ins Fühlen

Unser inneres Kind ist einzigartig, es hat viele Gesichter. Zu Unrecht wird als Quatschkopf oder Dickschädel, als Mimose oder Traumtänzer in viel zu enge Schubladen gesteckt, aus denen es sich entweder zu befreien sucht oder darin traurig ausharrt.
Einmal als Erwachsener auf Spur gebracht, fehlt es uns primär an Empathie und Geduld. Auch wenn wir verstanden haben, dass wir für ein löbliches Leben einiges geopfert haben, so gibt es eine Schwelle zu überschreiten: vom Verstehen ins Fühlen zu kommen. Wir bauen sehr gute Argumente um unser Leben, warum es gut und richtig so war, sich von kindlichen Ideen zu verabschieden, die Verspieltheit durch fokussierte Ziele ersetzt zu haben, dem Müßiggang aufgrund seiner scheinbaren Belanglosigkeit für Erfolge keinen Raum mehr zuzubilligen.
Wir gewöhnen uns an die Mauern, in denen wir – vielleicht wie in einem goldenen Käfig – festsitzen. Haben wir es uns erst einmal darin gemütlich gemacht, werden Unbedarftheit, Überschwänglichkeit, kindliche Offenheit, Neugier, Schwärmereien zu nostalgischen Momenten.
Halten wir jetzt genau diesen Augenblick fest: Was weht uns an, blicken wir zurück in unsere Kinderzeit? Was umkreist unser Herz, wenn innere Bilder aus diesen Tagen aufsteigen? Können wir uns sehen als Kind – als Quatschkopf, als Dickschädel, als Mimose oder Traumtänzer – oder sehen wir uns ganz anders?

Es gibt sehr unterschiedliche Anlässe, wie wir auf unser inneres Kind aufmerksam werden. Ich möchte hier exemplarisch auf zwei verbreitete Konstellationen eingehen.

Kalter Erfolg

Es gibt Menschen, die gehen beruflich einen sehr erfolgreichen Weg. Unter Erfolg verstehen sie großes Ansehen und eine angemessene Entlohnung. Viele von diesen Menschen erfahren aber dennoch keine echte Zufriedenheit. Sie wirken bei näherer Betrachtung rastlos, so treibe sie ein unstillbarer Hunger vor sich her, noch mehr zu erreichen, noch mehr zu besitzen.
In ihrem Glanz sieht man sich gerne zeitweilig mitschimmern bis man spürt, welche Kälte davon ausgeht. Es kann diesen Menschen durch eine zwischenmenschliche Begegnung bewusstwerden, dass ihr Verständnis von Erfolg mit gut getarnter Einsamkeit einhergeht und sie beginnen zu hinterfragen, auf welchen Vorstellungen ihre Lebensausrichtungen bislang beruhten.
Vielleicht geschieht aber auch etwas anderes und diese Menschen werden krank, sie brennen sich gesundheitlich aus und werden zur Ruhe gezwungen. Im positiven Umgang mit einer solch harten Zäsur kommt es zu einer umfassenden Innenschau und darüber auch zu einer Rückbesinnung: „Was war mir ursprünglich einmal wichtig? Was hat mir Freude bereitet? Was lag mir wirklich am Herzen?“

Zufriedenheit als Impulsgeber

Was unsere Begeisterung zu wecken vermag, knüpft unmittelbar an das an, was unser inneres Kind anspricht.
Wenn einmal die Mauer des Anscheins vom guten Leben durchbrochen wurde, schwindet die Angst bloßgestellt zu sein. Sich vergrabenen Kindheitsträumen und Herzensanliegen zuzuwenden gibt keinen Anlass mehr, sich deswegen zu schämen oder erfolgloser zu fühlen. Ganz im Gegenteil, die Beschäftigung mit den Anliegen des inneren Kindes zeigt die Wirkung eines lang herbeigesehnten Regens auf ausgetrockneter Erde.

Daraus resultieren neben gesundheitlicher Stabilisierung vor allem auch der Zugewinn an Erkenntnissen, die so manchen Manager auf ganz neue und sehr erfolgreiche Ideen bringen. Das gesammelte Wissen fließt in die geöffneten Kanäle, läßt Visionen entstehen und bringt sie zur Verwirklichung. Ob dies in Form einer Pilgerwanderung, eines umgestalteten Eigenheims oder vielleicht auch in Form eines kompletten beruflichen Neustarts geschah, ist sekundär.
Die neue Form des Erfolgs basiert auf innerer Integration, beinhaltet Aspekte, die für unser Herz, unsere Lebensfreude, unsere Kreativität, unsere Offenheit, unseren Gemeinschaftssinn, unser Mitgefühl – und damit für unser ganzheitliches Sein elementar sind. Es stellt sich eine Zufriedenheit ein, aus der heraus ganz andere Impulse für das berufliche Wirken entstehen, als durch das unbewusste Drängen nach Mehr.

Vom Leid der Erfüllungsgehilfen

Es gibt noch eine weitere Konstellation, wie sich der Hunger nach Mehr bemerkbar macht:
Ein Kind, welches stets auf die Liebe seiner Eltern warten musste, dass lernte, etwas tun zu müssen, um etwas vom Kuchen der Aufmerksamkeit abzubekommen, ein solches Kind macht sich gerne als Helfer in uns breit. Vielleicht lehnt es den eigenen beruflichen Erfolg sogar aus diesem Grund ab, weil es sich in der Rolle als Erfüllungsgehilfe anderer näher am süßen Nektar des Geliebt seins wähnt.
Menschen, die auf den Spuren eines solchen inneren Kindes wandeln, sind sich oftmals sehr bewusst, dass dies bereits seit ihrer Kindheit so ist. Sie fühlen sich nahezu eins mit dieser Aufgabe, dieser Art von Lebensinhalt und verstehen daher oftmals gar nicht, warum sie dennoch leer ausgehen, warum sie für ihre Dienste so minder gewürdigt, gar noch missachtet werden. Sie leiden und auch dies rutscht in ihrer Beachtung immer wieder nach hinten, da sie die Bedürfnisse anderer unter allen Umständen wichtiger nehmen.

Ihre Selbstverleugnung wird zu einer Selbstverständlichkeit, was ihr Leid weiter verschlimmert. Sie vermögen es kaum, sich Gehör zu verschaffen oder ihr Umfeld für die Leistungen zu sensibilisieren, für die sie wahrlich zu viel opfern. Einige verharren sehr lange in diesen Versorgungsstrukturen, denn sie sind Teil ihrer Identität. Etwas Eigenes scheint es nicht zu geben oder es besitzt kaum ausreichend Anziehungskraft, wenigstens einen Teil der persönlichen Zeit dafür frei zu halten.
Viele halten diese Form von Selbstlosigkeit gerade in Zeiten zunehmender Egozentrik für eine schützenswerte menschliche Eigenschaft. Im näheren Umgang mit diesen Menschen wird allerdings schnell spürbar, wie sehr ihr Einsatz auf die Resonanz ausgerichtet ist. „Liebeskäufer“ werden sie zuweilen genannt und ich selbst war eine von ihnen.

Entfesselte Selbstwertschätzung

Erst wenn die innere Not zusammen mit den Zurückweisungen ein essentielles Maß annimmt oder wenn sich die Umstände massiv ändern – beispielsweise, wenn die Kinder, für die man jahrelang ausschließlich da war, ihre eigenen Wege gehen –, dann bricht die Mauer rund um das isolierte innere Kind ein. Diese Momente sind nicht weniger dramatisch, als einen beruflichen Burn-Out zu erleiden. Doch es passiert noch etwas weitaus Fundamentaleres:
Man begegnet der eigenen fehlenden Selbstliebe ohne Vorwarnung, die volle Konfrontation mit dem Gefühl, dass man ab jetzt „nichts“ ist. Man hat den Eindruck, nichts vorweisen zu können, weder Erfolg, noch besondere berufliche Erfahrungswerte, keine nennenswerte, für andere sichtbare gesellschaftliche Position. Von heute auf morgen fällt die Rolle, die Aufgabe, die Identität weg, die über viele Jahre, mitunter als schwere Bürde, Halt und Heimat war.

Den Zugang zur Selbstwertschätzung über eine solche Erfahrung bewusst zu nutzen, das ist eine große emotionale und seelische Herausforderung. Es ist durchaus empfehlenswert, sich hier gezielte Anleitungen und passende Ansprechpartner an die Seite zu holen. Aus eigener Erfahrung kann ich allen hierfür nur Mut machen. Es ist ein großes Geschenk, sein gesamtes empathisches Vermögen und den langen Atem, welchen ein solches Kind mit sich bringt, Lebensbereichen und Projekten zur Verfügung zu stellen, die aus echter Selbstannahme heraus gestaltet werden. Das Anerkennen dieser besonderen Fähigkeiten ist der Schlüssel, um sich von der Fessel als Liebeskäufer zu befreien, es eröffnet Möglichkeiten für Begegnungen schönster Wertschätzung und wachsender Gemeinschaften auf Augenhöhe.

Appell unseres inneren Kindes

Gleich, ob es Vorgesetzte oder Geschäftspartner sind, nach dessen Zuspruch und Förderung wir streben, oder ob es die Liebe unserer Familie ist, derer wir uns durch unsere Aufopferung sicher wissen möchten, der Zuruf unseres inneren Kindes lautet: „Liebe mich, so wie du (vor allem) andere liebst.“ Und damit will es uns ermahnen, dass wir kaum etwas im Außen erhalten werden, was in uns selbst auf Eis gelegt wurde:
Selbstliebe, das Gefühl einzigartig, wunderbar und wertgeschätzt zu sein – mit allen unseren Anteilen, nicht nur mit denen, die andere an uns für gut oder nützlich halten. Durch die verschiedenen Weckrufe des Lebens werden wir aufgefordert, den ersten, bedeutenden Schritt zu machen und uns dem inneren Kind mit warmem Wohlwollen zuzuwenden. 

Ein aufgewecktes inneres Kind bereichert das Leben eines Großen durch seine Spontaneität, durch seine Ausrichtung auf die Gemeinschaft, durch seine positive Bereitschaft, Lösungen finden zu wollen, durch seine Empfindsamkeit, durch seine Wandelbarkeit und durch seine natürliche Verbindung zur kreativen Intelligenz des Lebens selbst.

Dieser Artikel ist erstmals 06/2020 im Magazin „Auszeit“ erschienen